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11. Juni 2024

Jung sein in herausfordernden Zeiten

Welche Auswirkungen haben geopolitische Ereignisse auf Jugendliche in Wien?

Im März/April 2024 sind 20 Student:innen der Bildungswissenschaften (Uni Wien) in Kooperation mit dem Verein Wiener Jugendzentren der Frage nachgegangen, was „Krisen“ für Jugendliche bedeuten und welche Auswirkungen aktuelle globale Krisen auf diese haben. Die Leitung der Lehrveranstaltung verantwortete Univ. Prof. Florian Sichling gemeinsam mit dem Pädagogischen Bereichsleiter des Verein Wiener Jugendzentren, Werner Prinzjakowitsch.

Das Interesse an dieser Forschungsfrage war insbesondere nach dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 aufgetaucht, da dem Thema der Betroffenheit medial große Bedeutung gegeben worden war, Beobachtungen aus der Praxis dazu aber eher widersprüchlich waren.

Es wurde ein qualitativer Forschungszugang gewählt. Da fast alle Student:innen keine vorherigen Erfahrungen mit Offener Jugendarbeit aufwiesen, sollten sie in einer ersten Phase das „Setting Jugendzentrum“ durch theoretische Auseinandersetzung und Teilnehmende Beobachtung im Feld kennenlernen. In der zweiten Phase führten sie leitfadengestützte narrative Interviews durch, welche dann von ihnen selbst einer ersten Auswertung unterzogen wurden. Die Ergebnisse wurden diskursiv zusammengeführt und in einer gemeinsamen Präsentation mit Jugendarbeiter:innen vorgestellt.

Die Interviews waren in einer halb-offenen Form, was es den Interviewenden ermöglichte sich dem Thema selbst langsam anzunähern. Nach Fragen zur allgemeinen Lebenslage wurde thematisiert, was die Jugendlichen gerade beschäftigt, danach was sie unter „Krise“ verstehen und wo sie sich diesbezüglich informieren. Danach wurde – wenn es nicht vorher schon zur Sprache gekommen war – nach bekannten internationalen Krisen gefragt, ohne dabei konkrete Beispiele anzubieten. Abschließend wurde der Umgang damit besprochen, welche Handlungsoptionen sie wahrnehmen und welche Unterstützungssysteme vorhanden sind.

Insgesamt wurden 20 Interviews mit Jugendlichen in 9 verschiedenen Jugendzentren und unterschiedlichen Sozialräumen durchgeführt. Zusätzlich wurden fünf Jugendarbeiter:innen befragt. Das Alter der jugendlichen Befragten war 12 bis 18 Jahre. Elf Jugendliche definierten sich als männlich, acht als weiblich und eine Person als non-binär. Dreizehn bezeichneten sich muslimisch, je zwei christlich (katholisch) und serbisch-orthodox, eine Person hinduistisch und zwei Jugendliche gaben kein religiöses Bekenntnis an. Die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen hatte Migrationshintergrund, wobei ca. zwei Drittel in Wien aufgewachsen sind. Die Herkunftsländer der Eltern sind eine bunte Mischung, und einige Jugendliche gaben an aus binationalen Beziehungen zu stammen (AFG 3, AUT 2, BUL 1, EGY 1, IND 1, SRB 2, SYR 4, TUR 3, Mixed 3).

Die Personen wurden zufällig ausgewählt oder von Mitarbeiter:innen vorgeschlagen und stellen daher keine in irgendwelcher Form repräsentative Zusammensetzung Jugendlicher in Wiener Jugendzentren dar. Da es sich aber um ein qualitatives Forschungsprojekt handelte, war dieser Anspruch auch nicht gegeben. Vielmehr ging es um eine möglichst breite Abbilungung derzeitger Erfahrungen unter Jugendlichen. Vielfalt war hier ein wichtigeres Kriterium, diese ist aus der Zusammensetzung gut ersichtlich. Außerdem waren die Wiener Bezirke 2, 3, 9, 10, 11, 12, 16, 20 und 22 vertreten, was ebenfalls eine vielfältige Mischung darstellt. 

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Die Ergebnisse

Die hier vorgestellten Erkenntnisse wurden rein aus den 20 Interviews mit den Jugendlichen generiert. Die wesentliche Erkenntnis – und das gilt für sämtliche durchgeführten Interviews – ist, dass die unmittelbare Lebenswelt der Jugendlichen absolut im Vordergrund steht. Wenn sie von Krisen oder krisenhaften Erscheinungen redeten, ging es in erster Linie, und bei vielen ausschließlich, um persönliche Krisen. Dazu gehören familiäre Konflikte, Fragen der Ausbildung und Zukunft, der Zugehörigkeit. In einigen Fällen ging es um persönliche Gewalterfahrungen in manchen um eigene Fluchterfahrungen.

So genannte globale Krisen wurden von vielen Jugendlichen gar nicht angesprochen, und wenn doch, korrelierten sie meist mit ihrem persönlichen Kontext. In den Fällen in denen explizit von globalen Krisen gesprochen wurde, standen zumeist drei im Vordergrund: der Israel-Palästina Konflikt, der Bürgerkrieg in Syrien und die Klimakrise. Letztere wurde nur von einem Interviewpartner explizit angesprochen, in diesem Fall aber sehr ausführlich. Nicht überraschend steht der Bürgerkrieg in Syrien bei einigen im Vordergrund. Der Ukraine Krieg wurde, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.

Mit großem Abstand steht Social Media, und hier vor allem TikTok, als Informationsquelle an erster Stelle. Da man sich den Content hier nur bedingt selbst aussucht, wird die einschlägige, und in einigen Fällen sehr drastische Bilderflut oft auch als Belästigung wahrgenommen. Dennoch verweilen die Jugendlichen auf der Plattform. Die Familie, und danach Freunde, folgen als Quelle von Information. Aufgrund des Interviewsettings überrascht es nicht, dass auch die Jugendeinrichtung fast immer eine wichtige Rolle in diesem Kontext spielt.

Was besonders auffällig war, ist dass die Interviewten eine überraschend hohe Differenziertheit an den Tag legten, wenn die genannten globalen politischen Krisen für sie ein Thema waren. Das steht definitiv im Widerspruch zu den Eindrücken, die in der Öffentlichkeit transportiert wurden. Auch wenn in manchen Interviews das Mitgefühl oder Sympathien mit einer Konfliktpartei ausgesprochen wurden, kam auch hier immer die Einschränkung zum Ausdruck, dass es mehrerer Seiten bedarf, um eine Situation bis zum Krieg eskalieren zu lassen und sich doch alle „zusammenreißen“ sollen.

Eine weitere Schlüsselerkenntnis ist, dass viele vor allem von einem Gefühl der tiefen Trauer um die Opfer aller Seiten und die scheinbare Ausweglosigkeit betroffen sind. Zum Mitgefühl gesellt sich in einigen Fällen noch die latente Angst vor einer weiteren Eskalation, bis hin zum Weltkrieg. Letzteres wird, wenn erwähnt, immer im Kontext naher Osten angesprochen, aber nie in Bezug auf den Ukraine-Konflikt.

Und wieder geht es hier stark um eigene Betroffenheit und den Eindruck, ob dieses Gefühl der Perspektivlosigkeit zumindest Teile der eigenen Jugend verloren zu haben. Ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten (in Bezug auf die globalen Krisen) sehen die Jugendlichen sehr eingeschränkt: In nur einem Interview wurde die Teilnahme an einer Demonstration erwähnt und in einem zweiten Interview wurde angesprochen, dass es wichtig wäre Informationen via Social Media zu teilen.

Als wichtigste Unterstützung wird die eigene Familie – so vorhanden – genannt. Mit Freund:innen setzt man sich dazu nur bedingt auseinander. Jugendarbeiter:innen spielen in den Fällen klarerweise auch eine Rolle. Und hier schließt sich der Kreis, denn diese Unterstützungen beziehen sich in allererster Linie auf die ganz persönlichen Krisen und Anliegen.

Fünf Schlüsselerkenntnisse

  • Für die Jugendlichen stehen ihre individuellen Herausforderungen im Hier und Jetzt ihres Lebens in Wien eindeutig im Vordergrund
  • „Globale Krisen“ werden, sofern sie, zumeist aufgrund persönlicher Betroffenheit, auf Interesse stoßen, auffallend differenziert betrachtet
  • Social Media, und hier mit großem Abstand TikTok, ist entscheidende Quelle und Trigger
  • Trauer und Ohnmacht sind die leitenden Gefühle
  • Die Familie – sofern vorhanden – ist der wichtigste Anker

Werner Prinzjakowitsch, Pädagogischer Bereichsleiter

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