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7. November 2022

Halloween-Vorfälle

Stellungnahme

Was sind die Mechanismen? Wie erklären sich solche Phänomene? Was kann Offene Jugendarbeit hier leisten?

In der Halloween-Nacht kam es zu massiven Ausschreitungen, an denen zahlreiche Teenies, Jugendliche und junge Erwachsene beteiligt waren – vor allem, aber nicht nur in Linz. Zuallererst muss festgehalten werden, dass destruktives gewalttätiges Verhalten zu ahnden ist und die involvierten Personen mit den Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert werden müssen.

Es ist der Sache aber nicht dienlich diese Vorkommnisse für populistisches Geplänkel zu nutzen und Maßnahmen zu fordern, die an der Sache an sich und an der Lösung der herausfordernden Situation völlig vorbeigehen. Es erfolgte z.B. sehr rasch eine Verknüpfung mit der Asyldebatte, obwohl sich schnell herausstellte, dass 2/3 der Beteiligten zwar keine österreichische Staatsbürgerschaft haben, aber nur eine geringe Anzahl in einem laufenden Asylverfahren sind. Zusätzlich lägen, aufgrund der Vorkommnisse, keinerlei rechtlich relevanten Abschiebegründe vor.

Zentral ist zudem zwischen strafunmündigen unter 14-Jährigen, Jugendlichen und Erwachsenen zu differenzieren und sich die unterschiedlichen Rollen bei einem derartigen Vorfall genau anzusehen. Daraus ergibt sich sehr häufig ein differenzierteres Bild: Einige wenige, häufig ältere männliche „Rädelsführer“ stacheln an und begehen den Großteil der strafrechtlich relevanten Taten. Jüngere, Großteils ebenfalls männlich, bilden das Publikum und wollen sich durch aktive Teilnahme und das Setzen eigener Handlungen vor den Älteren produzieren, um Anerkennung von ihnen zu bekommen.

Warum fallen immer jüngere männliche Jugendliche in diesem Kontext auf?

Die Lebensphase Jugend setzt früher ein, da Jugendliche schon sehr häufig mit Erwachsenenthematiken konfrontiert sind, wenn es um Zugänge zu Bildung, Ausbildung und Arbeitsmarkt geht und Armutsphänomene die Familie belasten. Sie hat sich jedoch auch verlängert, da der Übergang zum Erwachsenen mit materieller und auch räumlicher Selbstständigkeit verbunden ist. Beides ist für junge Menschen immer schwerer herzustellen. Ein stark segregierendes Bildungssystem und ein Arbeitsmarkt, dessen stetig steigende und sich vor allem rasch ändernde Anforderungen viele junge Menschen schlicht und einfach überfordern, verursachen, dass Jugendliche häufig viel zu früh existentiellen Ängsten ausgesetzt sind. Übergänge in das Erwachsenenleben, in dem Teilhabe untrennbar mit ökonomischen Aspekten verbunden ist, gestalten sich zunehmend schwieriger und langwieriger. Diese Verlängerung der Jugendphase – im fachlichen Diskurs auch „Entgrenzung“ genannt – führt dazu, dass Jugendphänomene gehäuft früher auftreten und auch länger andauern. All das erzeugt ein Ohnmachtsgefühl, dem sie versuchen zu entfliehen und stattdessen – oft aus traditionellen Männlichkeitsdefinitionen heraus agierend – ein Bild des „stark Seins“ zu vermitteln, um auf sich aufmerksam zu machen, Selbstwirksamkeit zu erleben und Anerkennung zu bekommen.

Welche äußeren Umstände gilt es zu berücksichtigen?

Zusätzlich hat die Corona Pandemie krisenhafte Situationen verschärft und schwierige unmittelbare Lebenssituationen in den Familien forcieren Zukunftsängste und Frustrationen. Viele Jugendliche haben in den letzten Corona dominierten Jahren entscheidende Entwicklungsschritte und Sozialisationserfahrungen nicht, oder nur sehr eingeschränkt durchlaufen können. Hinzu kommen aktuell steigende Energiepreise, Inflation im Allgemeinen, die das Leben verteuert, kriegerische Auseinandersetzung in Europa – von all diesen Dingen sind auch Jugendliche betroffen, die, auch wenn sie noch nicht selbstständig leben, die Betroffenheit und Sorge in ihrem Lebensumfeld tagtäglich miterleben.

Ein Narrativ, im Fall von Linz abgeleitet aus dem Netflix Film „Athena“, basierend auf der Leitidee sich für eine gerechte Sache einzusetzen, wird dann herangezogen, um eine Auseinandersetzung mit der Polizei zu rechtfertigen, die als machtvolle Organisation ihrer Selbstwahrnehmung als Opfer entgegensteht. In dieser Situation erleben sich die beteiligten Jugendlichen als handlungsfähige Individuen. Rebellion und Aufbegehren ist im Jugendalter nicht untypisch und als ein deutliches „auf sich aufmerksam machen“ zu werten. Manche finden keine anderen Kanäle aus ihrer Ohnmacht herauszukommen als destruktives, zerstörerisches Verhalten. Auf der Suche nach Wahrnehmung und Anerkennung bekommen sie in ihrer Lebensrealität mangels sinnstiftender Alternativen genau dafür positive Reaktionen, erleben Selbstwirksamkeit und einen Bedeutungsgewinn.

Welche Mechanismen können derartiges Verhalten erklären?

Jeder Mensch strebt nach Handlungsfähigkeit, da es bedeutet die Möglichkeit zu haben zentrale Lebensbereiche für sich zu gestalten. Jugendliche müssen diese Felder einerseits erst entdecken und andererseits sich diese auch erschließen. Speziell Zweites ist aber, je nach Ausgangssituation, nicht für alle Jugendlichen gleich möglich. Das Bildungssystem schafft schon im Alter von 10 Jahren Ausschlüsse, Übergänge zwischen Schule, Ausbildung und Beruf, unterschiedliche ökonomische Voraussetzungen und familiäre Unterstützungsmöglichkeiten vergrößern die Unterschiede. All das erschwert das Erlangen von Handlungsfähigkeit. Einfache Zugänge, die diese Erfahrung ermöglichen, bieten dann einen schnell verfügbaren Ausweg: Wenn ich mir „nichts gefallen lasse“ und dafür Anerkennung, häufig in Form von Angst anderer und Bewunderung der Peers, bekomme, erlebe ich mich als handlungsfähig. Wenn ich mir Teilhabe „nehme“, indem ich einen Ort auf eine Art und Weise besetze, welche von der Mehrheitsbevölkerung abgelehnt wird, erlebe ich mich als handlungsfähig. Zusätzlich gelingt es mir in meiner Umwelt eine Reaktion zu erzeugen, die zwar negativ ist, aber in mir ein Gefühl des „überlegen Seins“ erzeugt und sich daher wohltuend abhebt von Reaktionen, die ich im schulischen, beruflichen und oft auch familiären Umfeld gewohnt bin zu bekommen. Wenn auch nur kurzfristig erfüllt sich das zentrale Bedürfnis Ausnahmesituationen und damit das eigene Leben steuern zu können.

Was kann Jugendarbeit in diesem Kontext leisten?

Der Bedarf an Jugendarbeit allgemein ist nachweisbar groß: Nach dem Wegfall der Corona Einschränkungen waren die Einrichtungen des Vereins Wiener Jugendzentren binnen kürzester Zeit sehr stark genutzt. Bei einem Vergleich 2019/2022 von Anfang April bis Ende Oktober ergeben sich sehr rasch höhere Kontaktzahlen für das Jahr 2022, obwohl Jugendarbeit zwei Jahre über längere Strecken nur sehr hochschwellig zugänglich war. Noch deutlicher wird es, wenn wir nur das dritte Quartal (Juli bis September) betrachten: Hier haben wir im Vergleich zu vor der Pandemie 2019 sogar ein Plus von 8,5% im Bereich der Kontaktzahlen. Das ist ein Beleg dafür, dass der Bedarf kontinuierlich steigt. 2/3 unserer Gesamtkontakte sind junge Menschen im Alter von 10 bis 18 Jahren – also genau die Altersgruppe, um die es im aktuellen Kontext geht.

Jugendarbeit ist auch online präsent. Die Dokumentation der aktuellen Vorkommnisse in Sozialen Netzwerke verstärken die Wahrnehmungen der Jugendlichen in der eigenen Blase und kreieren das Gefühl einer unbegrenzten Reichweite und die Wahrnehmung „etwas bewegen zu können“. Online-Jugendarbeit klärt hier auf, bietet Reflexionsräume und Orte der Auseinandersetzung.

Hinzu kommt, dass bei den Vorfällen fast ausschließlich junge Männer beteiligt waren. Der Zusammenhang mit Bildern von Männlichkeit, die häufig eher archetypisch gelebt werden, ist eindeutig. Wenn diesen nicht entsprochen werden kann (Macht, Stärke, Bedeutung…) werden andere Kanäle gesucht, da in biographischen Krisen diese Männlichkeitsdefinitionen rasch an ihre Grenzen stoßen. Daher braucht es im besonderen intensive Burschenarbeit, Arbeit an Geschlechterrollen und alternative Identifikationsmöglichkeiten gelebter Männlichkeit.

Besonders junge Jugendliche (12 bis 15 Jahre) nutzen aktuell unsere Einrichtungen intensiv. Sie suchen Gemeinschaft, Abenteuer, Erlebnisse und Anerkennung, können aber mit Konflikten, Zurückweisung, Frustrationen nur schwer umgehen. Das ist generell nichts Neues für diese Altersgruppe, jedoch in dieser Heftigkeit und Intensität, die in den vergangenen Monaten auch in unseren Einrichtungen und im öffentlichen Raum zu beobachten war, doch auffällig. Dazu kommen oft schwierige familiäre Situationen und fallweise auch der Kontakt mit Suchtmitteln in bereits sehr jungen Jahren.

Hier gilt es dranzubleiben, Angebote zu setzen, Möglichkeiten zu schaffen, um Sozialisationserfahrungen nachzuholen, vernetzt mit allen relevanten Akteur:innen im Gemeinwesen, in Verwaltung und Politik vorzugehen und, vor allem, „Jugend zu ermöglichen“. In diesem Kontext hat Jugendarbeit einiges anzubieten und tut dies auch – und zwar kontinuierlich, nachhaltig, authentisch und berechenbar. Darüber hinaus braucht es aber auch eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung. Es braucht Zukunft und Perspektiven, es braucht Teilhabesignale und Teilhabemöglichkeiten.

Die präventive Wirkung von Jugendarbeit ist wissenschaftlich belegt. Im Rahmen des österreichischen Sicherheitsforschungsförderprogramm wurde in dem Kiras-Projekt „Ja_Sicher“ nachgewiesen, dass der Einsatz von mobiler Jugendarbeit in einer Nachbarschaft die Jugendkriminalität um bis zu 20% an den betreffenden Plätzen absenkt. Dabei ist die Jugendarbeit auf diesen Plätzen nicht andauernd vor Ort, sondern nur zwischen 2 und 10 Stunden pro Woche. Trotzdem gelingt es eine nachhaltige Kultur unter den ansässigen Jugendlichen zu etablieren, die auch dann weiterwirkt, wenn gerade keine Jugendarbeiter:innen vor Ort sind.1

Wie Jugendarbeit tickt und wirkt, wird oft in Aussagen deutlich, die ehemalige Jugendliche über ihre Zeit in Jugendzentren und mit Jugendarbeiter:innen tätigen: „Bei all dem Scheiß, den ich gebaut hab, hab´ ich noch immer das Gefühl gehabt, dass ihr mich mögt und mich nicht fallen lasst. Da wollt´ ich dann selber irgendwann nicht mehr so weiter tun“. Prävention heißt in diesem Zusammenhang: Jugendliche über ihre kritische Phase hinweg zu begleiten und mit konkreten Angeboten Alternativen zu negativem Verhalten aufzuzeigen.

Welche konkreten Präventionsangebote sind gemeint?

Alles, was Jugendlichen ermöglicht sich selbst als handlungsfähig wahrzunehmen und darüber Gestaltungspotentiale für das eigene Leben zu erkennen und gesellschaftliche Teilhabe zu erfahren. Ausgehend von ihren Interessen, Talenten und Potentialen stellt Jugendarbeit ihnen „Trittsteine“ zur Verfügung, auf die sie freiwillig steigen können.

Beispielsweise geschieht dies durch:

  • Beteiligung bei Planung von Angeboten in der Einrichtung, dies ist häufig die niederschwelligste Form von Teilhabe. Größere Beteiligungsprojekte knüpfen daran an, zum Beispiel mit der gemeinsamen Gestaltung eines Platzes im öffentlichen Raum. Dies stärkt vor allem das Gefühl von Selbstwirksamkeit bei Jugendlichen, sie erfahren Anerkennung durch ihre Umgebung, können sich austauschen und sich mit unterschiedlichen Positionen auseinandersetzen. So wird ihre Konfliktfähigkeit, Resilienz und Empathiefähigkeit nachhaltig und auf positive Art und Weise gestärkt.
  • Ebenso wird über jugendkulturelle Zugänge, von Musikproduktion über Tanz bis hin zu Graffiti oder digitalen Formen von Jugendkulturen, die persönliche Ausdrucksfähigkeit von Jugendlichen auf vielfältige und kreative Art und Weise gestärkt. Je größer ihr Fundus an Ausdrucksmöglichkeiten, desto mehr Ressourcen stehen ihnen zur Verfügung, um mit Krisen umzugehen und damit verbundenen negativen Emotionen und Impulsen zu integrieren.
  • Sportliche Angebote, von klassischen Ballsportarten über Teilnahme an unterschiedlichsten Laufevents bis hin zu Kampfsport, tragen dazu bei sich mit dem eigenen Körper auseinanderzusetzen und einen alternativen Umgang mit den Kategorien „Sieg“ und „Niederlage“ zu erlernen. Gemeinsam mit den Jugendlichen werden diese Kategorien in ihrer Absolutheit hinterfragt. Der Spaß und die gemeinschaftliche Aktivität stehen im Vordergrund.
  • Gemeinsames Kochen ist als Gruppenerlebnis von Bedeutung und trägt ganz zentral zum Erlangen von Autonomie und Handlungsfähigkeit bei.
  • Thematische Angebote zu Themen, die Jugendliche unmittelbar betreffen, wie Bildung, Arbeitsmarkt, Sexualität und politische Schwerpunkte dienen einerseits der Wissensvermittlung und andererseits der aktiven Aneignung von Diskursfähigkeit und damit auch Konfliktfähigkeit.
  • Jugendarbeit ist niedrigschwellige Erstanlaufstelle für viele Jugendliche in krisenhaften Lebenssituationen und kann dadurch unmittelbar und an den Bedürfnissen angepasst individuelle Beratung, Begleitung und Unterstützung leisten.

Egal welches Angebot, die Freiwilligkeit der Teilnahme ist zentral, da Eigenverantwortung dort entsteht, wo die Möglichkeit zur Entscheidung gegeben ist. Rein auf Zwang aufbauende Zugänge erzeugen kurzfristig vielleicht das erwünschte Verhalten, langfristig ist dadurch aber keine nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung möglich.

 

1 Kiras-Projekt Ja_Sicher in SIAK  - Journal, Ausgabe 3/2016: Zeitschrift für Polizeiwissenschaft und polizeiliche Praxis, Beilage: Österreichische Verwaltungswissenschaftliche Blätter, S. 47f, Bundesministerium für Inneres

Manuela Smertnik, Geschäftsführerin Verein Wiener Jugendzentren

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